Leitlinien, Irreführung
Für die barrierefreie Stadt wurde zuletzt viel investiert. Aber vom Ideal ist Mülheim noch weit entfernt.
Auch neu angelegte Gehwege weisen in der Praxis unangenehme Hürden für Behinderte auf
Von Jörn Stender
Es sind die kleinen baulichen Mängel, die Gedankenlosigkeiten, die Menschen wie Maria St. Mont und Christa Ufermann in die Irre führen. Beispiel Haltestelle Rathausmarkt. Die Anlage ist nagelneu. Blindenleitstreifen führen zum Bahnsteig. Theoretisch. Denn eigentlich enden die weißgrauen Rillensteine, an denen sich Sehbehinderte mit dem Stock orientieren können, vor einem ausladenden Versorgungsschacht-Deckel. Die Führung wird rüde unterbrochen.
An der anderen Bahnsteigseite führen die Streifen haarscharf zu einem Gitterzaun. Ein typischer Stock-Fänger. Und auch der Abstand zwischen Leitrillen und Bahnsteigkante scheint alles andere als perfekt. 55 cm sollten es möglichst sein. „Aber hier sind das gerade mal 30 cm”, schätzt Werner Bender vom I.L.I.S, vom Verein zur Förderung der Blindenbildung. Gefährlich nah stehen Behinderte damit an einfahrenden Bahnen. Dass die Ampel dazwischen noch keinen akustischen Signalgeber hat, passt. Er soll im Mai montiert werden.
Zur Bestandsaufnahme sind Mitglieder des Mülheimer Blindenvereins mit Bender, der städtischen Behinderten-Koordinatorin Felicitas Bütefür und Alfred Beyer von der AGB (Arbeitsgemeinschaft der in der Behindertenarbeit tätigen Vereinigungen) unterwegs. Sie wollen sehen, was gut ist. Und wo es hakt bei der Barrierefreiheit und der Nutzung ohne fremde Hilfe. Die ist gesetzlich verankert und dient letztlich nicht nur Behinderten, sondern macht mit klaren Informationen und dem Abbau von Stufen allen das Leben leichter. „Das passt insgesamt zur familienfreundlichen, altengerechten Stadt”, meint Bender.
Alle öffentlichen Gebäude, so das hehre Zeil, sollen barrierefrei zugänglich, taktile Informationen durchgängig sein. So der Idealfall in der Theorie. Im neuen Bürgeramt – mit Blindenbeschriftung an den Toiletten, an Handläufen und Orientierungstafeln – ist das Ideal beinahe erreicht. Doch auch dort hält die Praxis Hürden bereit. Eine akustische Ansage für Wartende fehlt, die Info-Theke ist extra für Rollstuhlfahrer abgesenkt, doch die bequeme Zufahrt verstellt eine mobile Trennwand. Gut sind die auffälligen Leit-Zebrastreifen auf dem Boden – doch eben auch schon arg verdreckt und damit teilweise ihrer Signalwirkung beraubt.
Gut aus Sicht der Blinden: die klare Orientierungshilfe über Rillensteine und so genannte Aufmerksamkeitsfelder. Die Noppenstruktur auf dem Pflaster erregt Aufmerksamkeit, zeigt an: hier ändert sich die Wegeführung. Im Zuge der Ruhrbania-Planung für den Stadtumbau wurden durchgängig Leitsysteme berücksichtigt. Der Knackpunkt: Die Planung ist teilweise Jahre alt. Seither hat sich die Technik geändert und ist längst optimiert worden. „Aber das wird in der Regel in der Ausführung nicht berücksichtigt”, sagt Bender. Insgesamt sei Mülheim dennoch auf einem guten Weg. „Besser ist eine nicht ganz 100-prozentige Lösung als gar keine Lösung.” Manches „kann noch nicht optimal sein. Es muss sich entwickeln”, vor allem müssten Hilfen und Angebote auch kommuniziert werden, steht für Bütefür fest. Aber es gibt auch Neubaustellen, wo bei der Runde das Verständnis aufhört. Beispiel Friedrich-Ebert-Straße, direkt unterm Rathausbogen. Dort enden die Leitrillen abrupt an einem Pflasterstück. Bender wundert sich: „Das ist wie früher an der Zonengrenze.”
Kommentar:
Bürokratie pur
Von Jörn Stender
Barrierefreiheit, von Anfang an eingeplant, muss nicht viel teurer sein als Allerweltsplanung. Und sie rechnet sich auf jeden Fall. Klare Wegeführung, optimale Beschilderung und der Abbau von Stolperfallen dienen letztlich allen.
Bei der Umsetzung eröffnet die Fantasie durchaus Gestaltungsspielräume. Noch entscheidender ist allerdings die Koordination bei der Umsetzung, damit aus gut gemeint auch gut gemacht wird. Die besten Hilfen bringen nichts, wenn Planer ihr Handwerk vergessen und Handwerker schlampen, wenn die Baukontrolle versagt. Dann führen neu angelegte Leitstreifen in die Irre. Unfassbar, wenn der gesamte Museumshof barrierefrei neu angelegt wird, nicht aber gleich in einem Zuge ein knapper Quadratmeter Wallstraße am Hof-Zugang auch mit einer Orientierunshilfe versehen wird. Das ist Bürokratie pur. Wer so baut, muss blind sein.
j.stender@waz.de
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